Aus einer Mundharmonika entfleuchen die Töne der deutschen Nationalhymne. „Macht und Reichtum, Weisheit und Stärke“, johlen zwei Männer und schrummeln dazu auf Wandergitarren. Eine Frau in einem langen Baumwollkleid schwingt neben ihnen eine weinrote Fahne mit der Aufschrift „Jesus“. Während eine vor sich hin dösende braun getigerte Katze ein Exemplar des deutschen Grundgesetzes hütet, schreitet eine Demonstrantin Richtung Volksbühne. Sie trägt ein Transparent, das mit dem Titel eines Beatles-Songs bedruckt ist: „All You Need Is Love“. Ihr Nebenmann ruft in die Menge: „Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf!“
Aus den Fenstern der Häuser rund um den Rosa-Luxemburg-Platz hängen Plakate. „Geht heim“ und „Nicht eure Kulisse“ steht darauf geschrieben.
„Hooligans und Friedenslinke stehen fröhlich nebeneinander und erfreuen sich am gemeinsamen ‘Wir sind das Volk’-Gebrüll“, verkündet ein Teilnehmer der genehmigten Gegen-Demonstration per Megaphon.
Eine Frau und ein Mann haben sich Körbe voller Kekse unter die Arme geklemmt. Einer landet in der rechten Hand einer Anwesenden, die mit der linken ihr Handy aus der Hosentasche zieht. „Genießen Sie das Grundgesetz, solange es noch möglich ist“, sagt der Geber und setzt seine Mission fort.
Der Keks besteht aus zwei Lagen, dazwischen eine Schicht Schokolade. In den Teig ist das Wort „Grundgesetz“ gestanzt. Die Beschenkte zieht das Gebäck aus der Plastikfolie, schiebt es in ihren Mund, kaut und lächelt beseelt. Dann schaut sie wieder auf ihr Handy. Sie hat eine WhatsApp-Nachricht empfangen: „Ich sehe dich.“
„Oh nein!“, denkt sie laut beim Anblick des Absenders.
„Halten Sie bitte Abstand!“, weist sie ein uniformierter Polizist mit Mundschutz zurecht.
„Aber natürlich“, antwortet sie übertrieben freundlich.
Aus Lautsprechern schallt Musik: „Hey, Pippi Langstrumpf, trallari trallahey tralla hoppsasa! Hey, Pippi Langstrumpf, die macht, was ihr gefällt.“
Nachdem das Kinderlied verstummt ist, nehmen Menschen auf Matten rund um die Grünfläche vor der Volksbühne eine Meditationshaltung ein. Einige haben sich rote Faschingsnasen übergestülpt.
Auf ihrer rechten Schulter spürt sie eine warme Hand. „Servus! Wer hätte gedacht, dass wir uns in diesen seltsamen Zeiten wiedersehen“, begrüßt sie der Besitzer der Hand. Er grinst sie frech an, als sie sich zu ihm umgedreht hat.
„Halte bitte Abstand von mir!“, erwidert sie theatralisch. „Social Distancing! Tödliche Viren! Ansteckungsgefahr!“
Dann bricht sie in schallendes Gelächter aus. Ihr Gegenüber lacht dreckig mit. Jeder hysterische Ton ist hochinfektiös, um noch schriller und lauter zu lachen. Als sie sich beruhigt haben, fragt sie ihn, der ihr vor wenigen Minuten eine Nachricht geschickt hat: „Wie geht es dir?“
„Na ja … Mache mir Sorgen um meine Angestellten. Ich will die Leute natürlich weiter bezahlen. Und selbst?“
„Bin seit einigen Tagen arbeitslos.“
„Ein Alptraum“, meint er.
„Ja, im März habe ich mich oft gekniffen und mir die Nase zugehalten. Ich wollte endlich aufwachen“, erzählt sie ihm.
„Mit ihrer Ansammlung verstoßen Sie gegen die Eindämmungsmaßnahmen-Verordnung des Senats von Berlin“, donnert eine blecherne männliche Stimme aus einem Megaphon: „Gemäß dieser Verordnung sind Versammlungen, Veranstaltungen, Ansammlungen und Zusammenkünfte von mehr als zwei Personen zurzeit unzulässig. Diese Maßnahme dient dazu, die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Coronavirus zu reduzieren. Ich weise Sie nochmals darauf hin, dass Sie mit Ihrem weiteren Verbleib hier vor Ort eine Straftat nach dem Infektionsschutzgesetz in Verbindung mit der Eindämmungsmaßnahmen-Verordnung des Senats von Berlin begehen. Wir fordern Sie letztmalig dazu auf, Ihre Ansammlung zu beenden und sich einzeln, maximal zu zweit, in Richtung Alexanderplatz zu entfernen. Halten Sie hierbei einen Abstand von 1,5 Meter zueinander. Sollten Sie sich nicht an die Eindämmungsmaßnahmen-Verordnung halten, wird die Polizei strafprozessorale Maßnahmen gegen Sie einleiten.“
Er, der sich um seine Angestellten sorgt und sie, die ihre Arbeit verloren hat, rücken näher als anderthalb Meter zusammen. „Wir sind eine Ansammlung von zwei Personen und damit völlig legal“, kommentiert sie die Ansage der Berliner Polizei.
„Wir sollten knutschen“, fordert er sie schelmisch heraus.
„Ja, mal sehen, was dann passiert“, säuselt sie und fällt in seine Arme. Ihre Lippen verkeilen sich, saugen sich aneinander fest. Forsche Zungen verwandeln sich in Soldaten, die nicht nur in ihren Mündern eine Schlacht ausfechten.
„Sofort auseinander! Sie verstoßen gegen das Infektionsschutzgesetz der Bundesrepublik Deutschland und die Eindämmungsmaßnahmen-Verordnung des Senats von Berlin!“, hämmert ihnen die aufgebrachte Stimme einer Polizistin entgegen.
Die beiden krallen sich ineinander. Bakterien, Viren und Keime wandern ungezügelt von einer Kehle in die andere. Vier Beamte mit Atemschutzmasken reißen sie auseinander und zerren sie einzeln durch die buhende Menge. Zwei Frauen folgen der Polizei-Kohorte und brüllen frenetisch: „Was haben sie getan? Was haben sie getan?“
„Paare! Küsst euch! Liebt euch! Lasst die Masken fallen!“, schreit die Küsserin im Schwitzkasten der staatlichen Befehlsempfänger. Eine Horde von YouTubern und Journalisten filmt die Szene mitsamt der vielen sich nun küssenden Menschen, ehe die Straftäter in zwei getrennte Polizeiautos gedrängt werden. (as)