Letzte Ausfahrt 2020: zeitgenössischer Roman

Letzte Ausfahrt 2020 – so lautet der Titel meines bisher unveröffentlichten Romans, aus dem ich euch in meinem Blog einige Auszüge präsentiere. Zu dieser modernen Flucht-Geschichte inspirierten mich reale Ereignisse in Deutschland und der Welt. Ich widme das Werk meiner 2019 geborenen Nichte Tilda.

29. Dezember 2020, 7:00 Uhr

Edvard Griegs „Morgenstimmung“ ertönt auf der Waschmaschine. Daniel hat mein Handy zum Aufladen ins Badezimmer gelegt. Felix nagt angeblich Kabel an. Der beste aller Berliner Kater hat sicher tiefer geschlummert als ich. Und schon spielt mein Wecker „Morgenstimmung“, obwohl es über den Dächern von Schöneberg noch stockduster ist. Die Gedanken haben in meinem Kopf Pirouetten gedreht. Erst vor ein paar Minuten ist mir eingefallen, dass mich ein paar Tropfen CBD-Öl auf der Zunge vielleicht beruhigt hätten. Wie lange habe ich überhaupt geschlafen? Drei Stunden? Oder vier? Meine rote Ex-Couch ist so unbequem! Im Rücken spüre ich die Kuhle, die mein Hinterteil im Laufe der Jahre ins Polster gegraben hat. Dass Daniel und Erik sich überhaupt erbarmt haben, das alte Teil zu übernehmen! Hellwach schleiche ich ins Bad, damit in fünf Minuten nicht noch einmal „Morgenstimmung“ durch die Wohnung dröhnt.

Die Schlafzimmertür öffnet sich einen Spalt. Daniel schaut mich müde und betreten aus seinen großen braunen Hundeaugen an.
„Du hättest doch weiterschlafen können“, flüstere ich, um Erik nicht zu wecken.
„Nein, ich will mich noch von dir verabschieden. Ich mache dann mal Kaffee.“
„Das ist lieb von dir“, antworte ich und mir wird bewusst, wie sehr ich Daniel vermissen werde. Nachdem ich mich gewaschen und angezogen habe, geselle ich mich zu meinem besten Freund in die Küche. Ich lasse zwei Scheiben finnisches Vollkornbrot in den Toaster wandern. Dann hole ich die letzten Lebensmittelvorräte aus meinem alten Leben aus dem Kühlschrank: ein veganes Schnitzel, Soja-Margarine und eine Scheibe Käse. Vor knapp zwei Wochen habe ich so viele Äpfel im Biomarkt gekauft, dass ich am 29. Dezember 2020 noch einen fürs Frühstück übrig habe. Alles genau abgezählt.

Daniel und ich schweigen, während wir mein vorletztes Mahl in Berlin anrichten. Felix erwartet uns schnurrend auf der gemusterten alten Oma-Plüschcouch seiner beiden Herrchen. Daniel setzt sich neben ihn, krault ihm den Hals. Der schwarzweiße Kater schnurrt noch lauter und streckt seinen Kopf in die Höhe. Auch er wird mir fehlen. Felix, der sich bei jedem meiner Besuche wie besessen an meinen Taschen gerieben hat. Wer wird sich in Zukunft um ihn kümmern, wenn Daniel und Erik mal wegfahren? Felix und ich waren während der Abwesenheit der Jungs immer ein tolles Team.
„Na, wie fühlst du dich? Bereust du es?“, fragt mich Daniel, als ich in mein Finn-Brot mit Veggie-Schnitzel beiße.
Ich kaue aus und erkläre ihm: „Nein, das ist richtig so. Es fällt mir extrem leicht, meine Bruchbude und die Hauptstadt des Grauens hinter mir zu lassen!“
„Ja, das glaube ich dir“, seufzt Daniel und ich habe das Gefühl, dass ich langsam meine Tränen nicht mehr zurückhalten kann.

(…)

29. Dezember 2020, 8:57 Uhr

Ich habe noch ein paar Minuten, um den letzten Müll in den Hof zu bringen. Ein Orangennetz und ein bisschen Altpapier. Mein Handy meldet sich im Treppenhaus. Hier könnte man einen Horrorfilm drehen, meinte Frau Schmidt von oben vor ein paar Jahren. Sie wohnt immer noch über meiner Wohnung. Viele hängen fest in diesem Haus, das den Zweiten Weltkrieg nur zur Hälfte überlebt hat. Die andere Hälfte wurde zerbombt und nicht neu aufgebaut.
Ich ziehe das Handy aus der Hosentasche und lese eine Benachrichtigung von YouTube.
„Du bist dumm, dümmer geht’s nicht. Du beschissene dumme Fotze!“, kommentiert RedFlag2020 mein neues Musikvideo. Ich blockiere den Troll und lösche den Kommentar wie alle anderen Beleidigungen, mit denen meine Hater meine Social-Media-Kanäle unter Beschuss halten. Seit ich öffentlich meine Meinung kundtue, die Regierung kritisiere und Protestlieder veröffentliche, bin ich in gewissen Kreisen nicht mehr ganz unbekannt. Am 27. Dezember hatte mich ein Propaganda-Clown aus dem Staats-Fernsehen am Wickel. Ein Troll bezeichnete mich daraufhin als „Mörderin“ und als „Deutschlands meist gehasste Person“. Mein bisher schlimmstes Verbrechen in diesem Leben war, die Maskenpflicht und die mediale Panikmache zu kritisieren.

„Don’t feed the troll“, lautet mein Motto und ich gehe weiter die Treppe runter. Im Erdgeschoss begegnet mir eine mollige blonde Frau in schwarzer Kleidung.
„Guten Morgen. Sind Sie Frau Klein-Krämer von der Hausverwaltung?“, spreche ich sie an.
„Ja, die bin ich.“
Ihre Stimme klingt genervt.
„Okay, ich gehe nur noch mal kurz zum Müllcontainer. Ich bin gleich bei Ihnen zur Wohnungsübergabe. Die Tür steht offen, Sie können schon rein.“
„Alles klar.“

(…)

29. Dezember, 9:35 Uhr

(…)

Vom Altkleidercontainer geht es direkt in den Supermarkt. Im Rucksack trage ich vier leere Pfandflaschen bei mir.
„Aufgrund der aktuellen Situation schließen wir im Januar bereits um 21 Uhr“, lässt mich ein Schild am Eingang wissen. Daneben hängt das alles dominierende Maskenpflicht-Zeichen, das aussieht wie ein Schafgesicht.
„Zutritt ohne Einkaufswagen verboten“, maßregelt ein drittes Schild die Kundschaft.

Ich ziehe meine grüne Löchermaske aus der Jackentasche und dekoriere damit Mund und Nase. Die Luft von außen dringt weiter ungeniert in meine Lunge ein. Ich hole mir auch einen Einkaufswagen, obwohl ich nichts kaufen werde. Dann umkreise ich den Präsentierteller-Tisch für Desinfektionsmittel, vor dem ein kreisrunder roter Aufkleber am Boden „2 Meter Abstand halten!“ brüllt.
Ohne den vielen vermummten Gesichtern mit blauen Einwegmasken Beachtung zu schenken, bahne ich mir zügig den Weg zum Pfandflaschenautomat.
Wenn ich Gesichtswindeln zu intensiv beachte, werde ich innerlich aggressiv. Solch eine Designermaske wie meine habe ich in Berlin kein zweites Mal gesehen. Die Verkäuferinnen lassen mich in Ruhe. Einmal male ich mir eine knallrote Maske ins Gesicht und gehe mit dem Kunstwerk einkaufen. Keiner meckert mich an. Nachdem der Berliner Senat im Sommer Bußgelder für Maskenverweigerer eingeführt hat, verhülle ich mich monatelang mit einem Schlüpfer aus roter Spitze. Sogar vor schwarzuniformierten Polizeitruppen und bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen Tegel.

(…)

29. Dezember 2020, 9:50 Uhr

Ich habe das dringende Bedürfnis, nochmal mit Daniel zu quatschen. Er meldet sich nicht. Sicher hat er sich nach unserem Abschied wieder aufs Ohr gelegt. Ich hätte mich gerne über meine seltsame Begegnung mit Frau Klein-Krämer ausgekotzt. Vermutlich ist es für meinen Gemütszustand besser, dass er nicht ans Telefon geht. Wenn ich mich auskotze, widme ich Frau Klein-Krämer Aufmerksamkeit, die sie nicht verdient hat. Ich halte auch gefühlt 150 Kilometer Abstand zum nächsten Fernseher.

An der Bushaltestelle verschwendet das Bundesministerium für Gesundheit Steuergelder für Propaganda: „AHA + A. Der doppelte Schutz gegen Corona. Abstand, Hygiene, Alltagsmaske + App.“
Auf der anderen Straßenseite lese ich: „Abstand halten! Hände waschen! Maske tragen! Regelmäßig lüften! Kontakte reduzieren! App benutzen! AHA!“
A-ha ist eine norwegische Popgruppe.

Ich biege in die Elberfelder Straße ab. Mein üblicher Weg zur Spazierstrecke an der Spree. Mein Lieblingsitaliener an der Ecke Dortmunder Straße wirkt verwaist. „Seit dem 2. November 2020 liefern wir bis auf Weiteres nur noch Essen außer Haus. Sie können zwischen 17 und 19 Uhr Bestellungen aufgeben.“
Das Schild an der Tür wird dort wohl noch sehr lange hängen. Davor hat jemand eine Gesichtswindel entsorgt.

(…)

29. Dezember, 11:40 Uhr

Oft habe ich mir im argentinischen Café Antonio in meiner Ex-Straße Cappuccino und Alfajores mit Kokos und Schokoladenfüllung gegönnt. Ich liebe es, auf den bunten Sofas zu entspannen und argentinischem Tango zu lauschen. Antonio hat beim Backen seiner Doppelkekse den Dreh raus. Seit dem 2. November darf er sie nur noch außer Haus verkaufen. Je länger der zweite Lockdown dauert, desto trauriger wirkt Antonio, mit dem ich ab und zu im Hinterzimmer des Cafés Salsa und Bachata getanzt habe. Im Sommer verdonnerte ihn das Ordnungsamt zu 55 Euro Bußgeld, weil er Gäste ohne Maske bedient hatte. Vereinsamt und maskiert steht er nun hinter seinem Tresen, als ich zum letzten Mal mit löchrigem Stoff über Mund und Nase die Glastür zu seinem Laden öffne.
„Hola!“, begrüßt er mich. „Como estás?“
„Hola Antonio. Ich bin gekommen, um mich von dir zu verabschieden. Ich gehe weg von hier.“
„Was? Wirklich? Das ist ja schade“, antwortet er mir mit seinem spanischen Akzent.
„Nein, das ist genau richtig. Vorher möchte ich aber noch einen Cappuccino bei dir kaufen.“
Ich sehe Trauer in Antonios dunkelbraunen Augen.
„Muy bien“, sagt er und ich frage ihn: „Darf ich mal deine Toilette benutzen? In meine alte Wohnung kann ich nicht mehr rein.“
„Sí, claro.“

Als ich meine Blase endlich geleert habe, steht mein Kaffee in einem Pappbecher auf dem Tresen.
Ich bedanke mich bei Antonio: „Muchas gracias für die vielen netten Momente in deinem Café. Ich wünsche mir so sehr, dass du diese Zeiten überstehst und bleiben kannst.“
„Ja …“, seufzt Antonio und schaut mich betreten an.
„Danke auch für die beiden Alfajores, die du mir neulich geschenkt hast. Du bist ein toller Bäcker. Du verdienst es, dass bald wieder ganz viele Leute zu dir kommen und hier im Café sitzen.“
„Das kann niemand gerade“, sagt er verhalten.
„Ja, ich weiß. Und ich hoffe, dass die Regierung dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Ich kann leider gerade nichts anderes tun als abzuhauen.“
Dann fische ich 2,50 Euro aus meinem Portemonnaie und lege sie auf den Tresen.
Antonio und ich fallen uns in die Arme, drücken uns fest und verabschieden uns voneinander: „Adios.“

(…)

29. Dezember 2020, 12:10 Uhr

Ich gebe den Türcode an der Haustür ein: 4711 und das Glockenzeichen. Die Zahlenkombination, an der unzählige Paketboten im Laufe der Jahre verzweifelt sind, ist der Grund, weshalb ich das Haus noch betreten kann. Im Erdgeschoss des Hinterhauses fläze ich mich in den staubigen Korbsessel. Er steht in der Ecke neben dem verschlossenen Büro meines verstorbenen Vermieters. Unter meinen blauen Winterstiefeln liegt der gleiche schäbige bunte Läufer wie am 29. Januar 2006. Um mich herum wachsen dieselben staubbedeckten Plastikpflanzen, die mich jeden Tag mit ihren trüben dunkelgrünen Blättern empfangen haben.

Ich betätige den Lichtschalter und pule den Deckel von der Aluschale, die mein Mittagessen warm hält. So wenig Appetit wie heute hatte ich schon lange nicht mehr, obwohl das Kokoscurry verführerisch duftet. Mir ist flau im Magen. Trotzdem greife ich zu dem weißen Plastiklöffel und schaufele das Essen in mich hinein. Es schmeckt genauso lecker wie immer und doch anders. Vielleicht liegt es daran, dass ich es sonst im Imbiss auf einem Porzellanteller verspeist habe. Wen interessiert, dass Merkels sogenannter Lockdown Unmengen von Müll produziert? Pestlappen-Berge, Aluschalen für Lieferessen, Plastikbesteck, Pizzakartons, Wegwerfbecher für Kaffee „to go“ …

Eines meiner Lieblingsgerichte wird zur reinen Nahrungsaufnahme degradiert, denn ich weiß nicht, wo ich vor der Fähre das nächste Mal Essen kaufen kann. Ich habe keine Ahnung, ob die Geschäfte an den Umsteigebahnhöfen offen sind. Also fülle ich meinen Magen und gebe mir Mühe, es zu genießen. Ich bin dankbar, dass es noch möglich ist. Die alternativen Medien auf Telegram warnen schon seit Monaten vor einem Zusammenbruch der Lieferketten, geschlossenen Supermärkten und Stromausfällen. Legt euch Vorräte für ein halbes Jahr an, predigen sie. Kauft euch haltbare Lebensmittel, Dosenbrot. Was, wenn sie Recht haben in dieser Zeit, in der nichts mehr sicher und planbar ist? In Gedanken bete ich leise vor mich hin, dass mir meine Ausreise gelingt. Kann ich meiner inneren Stimme vertrauen, die mir sagt, dass am Ende alles gut wird?

(…)

29. Dezember 2020, 12:36 Uhr

Ein arabisch wirkender Mann steigt aus dem beigen Mercedes. Seine untere Gesichtshälfte steckt unter einem blauen OP-Mundschutz. Als er den Kofferraum öffnet, sage ich: „Den Koffer heben wir am besten zusammen an. Er ist sehr schwer.“
Der Taxifahrer packt den Griff am oberen Ende. Ich fasse von unten an. Es ist ein Kraftakt. Sobald es Frühling wird in Schweden, werde ich die dicken Wintersachen zu meiner Mutter schicken. Diese Zeit scheint mir noch ganz weit weg. Ob ich bis dahin in Malmö bleibe, steht in den Sternen.

Als wir mein Gepäck verstaut haben, gleite ich wie ein Sack auf den schwarzen Ledersitz hinter der Plastikplane. Der Fahrer gibt Gas und ich atme tief ein und aus. Ich fühle nichts außer ein bisschen Erleichterung.
„Verreisen Sie lange?“, fragt mich der Mann am Lenkrad.
„Sehr lange“, antworte ich cool.
Im Autoradio spricht Merkel: „Wir werden uns noch sehr lange auf harte Maßnahmen einstellen müssen.“
Ich stelle meine Ohren auf Durchzug. Diese Stimme triggert Aggressionen in mir. Tief atme ich in den Bauch ein, das beruhigt mich. In über 15 Jahren Kanzlerschaft habe ich es erfolgreich vermieden, Merkel zu oft zuzuhören.
„Frauen an die Macht!“, polterte ich als Teenager.
„Sei vorsichtig mit deinen Wünschen, denn sie könnten wahr werden“, denke ich jetzt, während die tristen Moabiter Hausfassaden an mir vorbeiziehen. Unter der dicken Wolkendecke am Himmel wirkt der Stadtteil besonders trostlos. An der Bushaltestelle am U-Bahnhof Turmstraße warten Maskierte.

Das Taxi bringt mich zum Washingtonplatz vor dem Hauptbahnhof.
„12,30 Euro“, sagt der Fahrer.
Ich gebe ihm 15 und antworte: „Stimmt so.“
Ein paar Regentropfen fallen auf mein Gesicht, als ich aus dem Auto steige. Der Taxifahrer und ich holen meine Sachen zusammen aus dem Kofferraum.
„Gute Reise“, wünscht er mir.

Ich schnalle mir den Rucksack auf, lege den Trageriemen der Keyboard-Tasche über die linke Schulter und schiebe den Koffer mit der rechten Hand senkrecht stehend neben mir her. In der linken halte ich eine Wasserflasche. Ich bin oft gereist, doch niemals mit solch schwerem Gepäck. Ja, ich bin oft gereist und sonst immer nach Berlin zurückgekehrt. Auf dem Asphalt vor der Drehtür lese ich: „Corona ist nicht das Problem.“

Ein klar denkender Mensch hat den Satz kurz vor Ostern mit Graffiti-Farbe auf den Boden gesprüht, jetzt sind die roten Buchstaben verblasst. Kräftiger leuchten die Benimmregeln an der Glasfassade. Das weiße Schafgesicht auf rotem Untergrund. Maskenzwang. Abstand halten. Mindestens 1,5 Meter. Alles knallrot. Schwarzuniformierte Polizisten mit weißen FFP2-Masken schleichen wie Schakale durch die Bahnhofshalle. Von Weitem wirkt meine grün gehäkelte Löchermaske wie ein Original und ich wie eine von vielen Deutschen im Weihnachts-Rückreiseverkehr. Maskengesichter mit Koffern und Reisetaschen wuseln durcheinander. An der Desinfektionsstation sprüht sich eine vierköpfige Familie mit zwei kleinen Kindern chemische Substanzen auf die Hände. Die Eltern haben auch die Kleinen vermummt. Den bedrückenden Anblick und den Wegweiser zum Covid-Testzentrum lasse ich schnurstracks hinter mir. Ich schleppe mich zur Rolltreppe, die runter zu Gleis 8 fährt. Zum Eurocity nach Hamburg, Abfahrt 13:03 Uhr. Ich bin dankbar für die Erfindung der Rolltreppe.

(…)

29. Dezember 2020, 14:33 Uhr

Schlaflos habe ich vor mich hin gedämmert. Meine Bücher sind viel zu tief im Rucksack versteckt – weit unter der vollgestopften Kosmetiktasche. Alles, was ich auspacke, muss ich auch wieder einpacken. Ich nehme einen Schluck aus meiner Wasserflasche. Am anderen Ende des Wagons kreischt schon seit über einer halben Stunde ein Baby.

Keine zehn Minuten mehr bis zum ersten Umsteigebahnhof. Ich werfe einen Blick auf meinen Koffer und bekomme einen Schreck. Über den Rollen klafft der Reißverschluss auseinander! Durch den Spalt erkenne ich meinen roten Pullover. Mein Herz beginnt zu rasen. Ich bin noch kein einziges Mal umgestiegen und schon ist mein Koffer kaputt?! Hastig ziehe ich mir den blauen Schal von der Taille und eile zur Gepäckablage. So schnell wie ich kann schnüre ich ihn um den Koffer, um die beiden Hälften wenigstens bis Malmö zusammenzuhalten. Ja, in Malmö werde ich mir bestimmt einen neuen Koffer kaufen müssen.

„Was für ein Scheiß!“, fluche ich in Gedanken. Im nächsten Zug ist es sicher klüger, ihn waagerecht auf den Boden zu legen, damit meine Sachen nicht mehr von oben auf den Reißverschluss drücken.
„Schaff erst mal den Weg zum nächsten Zug!“, meckert mein innerer Kritiker. „Wer so viel Zeug einpackt, hat echt keine Ahnung vom Flüchten.“
Ja, das Arschloch in meinem Kopf hat Recht. Ich habe keine Ahnung vom Flüchten und bin mindestens zehn Kilo zu schwer bepackt.

„Lösch dich DU DRECKSVIEH!!!!“, lese ich nach der Rettungsaktion meines Koffers auf meinem Handy.
„Nächster Halt Büchen. Sie haben Anschluss zur Regionalbahn nach Lübeck Hauptbahnhof um 15:02 Uhr auf Gleis 41. Der Ausstieg befindet sich in Fahrtrichtung rechts.“

Jetzt habe ich keine Zeit mehr für die Trollscheiße auf YouTube. Ich suche meine Gepäckstücke zusammen und ächze zur Wagontür. Schneeregen klatscht aus grauen Wolken gegen die Fensterscheibe. Der Zug wird langsamer, mein Herz wummert und meine rechte Hand besudelt den schwarzen Koffergriff mit Schweiß. Der Rucksack und die Keyboard-Tasche reißen meine Schultern in die Tiefe. Meine Motivation, den Weg bis Gleis 41 zu schaffen, hat trotzdem die Höhe eines Wolkenkratzers. Darunter schwelt eine stinkende Glut aus Panik. Ich hasse dieses Gefühl. Die Horrorvision eines auseinanderklaffenden Koffers umgeben von verstreuten Kleidungsstücken am Bahnsteig in der norddeutschen Provinz verbanne ich aus meiner Gedankenwelt.

Der Zug stoppt. An vorderster Front stehe ich an der Tür, die zu klemmen scheint. Noch mehr Panik sitzt mir im Nacken. Sie zwingt mich, am Türgriff zu rütteln. Dann gibt er von selbst nach. Die Wagontür öffnet sich, ein nasskalter Wind weht mir entgegen. Ich flitze mit der Keyboard-Tasche auf den Bahnsteig und lege sie auf den nassen Asphalt. Im Eiltempo erklimme ich noch einmal die drei Stufen und schnappe mir meinen Koffer. Unter dem Gewicht stöhne ich und möchte aus voller Kehle schreien.

Büchen ist nur ein Dorf, doch vor mir offenbart sich ein endlos wirkender Bahnsteig. Schneeregen bläst mir ins Gesicht. Alle anderen Umsteigenden hasten an mir vorbei und ich trampele gefühlt auf der Stelle. Es kommt mir vor wie in einem Alptraum vor über zehn Jahren. Ich laufe verzweifelt vorwärts und bleibe trotzdem am gleichen Fleck kleben. Jetzt habe ich nicht einmal Zeit, mich zu kneifen. Ich bin längst wach. Die Regionalbahn nach Lübeck soll in zwölf Minuten abfahren und ich sehe weit und breit kein Gleis 41. Ich bin immer noch in der Mitte von Gleis 2. Der Riemen der Keyboard-Tasche rutscht mir zum wiederholten Mal von der linken Schulter. In dem Moment verkeilen sich die Koffer-Rollen im Rollsplitt auf dem Bahnsteig. Meine linke Hand umklammert die kürzeren Tragegriffe des Keyboards.

(…)

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