Nach über 34 Jahren Fernsehgeschichte und 1.758 Folgen wurde die Lindenstraße abgesetzt. Am gestrigen 29. März 2020 ertönte im Ersten um 18:50 Uhr zum letzten Mal die berühmte Titelmelodie von Jürgen Knieper. Von diesem bitteren Abschied hatte ich bereits im November 2018 erfahren. Damals hatte die ARD-Fernsehprogrammkonferenz mehrheitlich gegen eine Verlängerung des Produktionsvertrages mit der Geißendörfer Film und Fernsehproduktion gestimmt. Angeblich wegen sinkender Einschaltquoten und Kosten, die das Interesse der Zuschauer übersteigen.
Lindenstraße seit der Kindheit
Die Lindenstraße hat mich einen Großteil meines Lebens immer wieder sonntags begleitet. Anfangs schaute ich nur in die Wohnungen der Beimers und der anderen Mieter von Haus Nummer drei, weil meine Mutter das auch tat. Obwohl ich noch sehr klein war, bemerkte ich den damaligen Graustich des Filmmaterials, die schlechte Kameraführung und die Spießigkeit der Haubewohner. Ich fand die Serie unglaublich blöd und lästerte meiner Mama die Ohren voll. Die Presse tat es mir gleich, doch das wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Trotz meiner Kommentare fläzte ich mich jeden Sonntag aufs Neue vor den Bildschirm, bis ich die Lindenstraße und deren Figuren irgendwann liebte!
Mit diesem wöchentlichen Ritual wuchs ich auf. Ich bewahrte es mir, als ich längst bei meinen Eltern ausgezogen war und Mitte der 2010er Jahre mein Kabelfernsehen abgemeldet hatte. Meine Lieblingsserie war das Einzige, was mich am regulären TV-Programm noch interessierte. Zu meinem Glück stand sie auf der offiziellen Lindenstraßen-Website und auf YouTube als Video bereit. So konnte ich sie jederzeit und überall streamen.
Aktuelle politische und gesellschaftliche Themen
Die Nachricht, dass die Lindenstraße abgesetzt wird, traf mich wie ein Schlag. Nicht nur aus Eigeninteresse eines treuen Fans, sondern weil dieses Format auch einen Bildungsauftrag erfüllt hat. Es war ein Alleinstellungsmerkmal der Serie, sich immer wieder mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Themen auseinanderzusetzen.
Ich erinnere mich noch lebhaft an den 18. März 1990 – ein ungewöhnlich warmer, sonniger Tag. Mein Geburtstag. Meine Großeltern sind zu Besuch. Am Abend versammelt sich die ganze Familie vor dem Fernseher – Oma und Opa sind ebenfalls regelmäßige Lindenstraßen-Zuschauer. Plötzlich passiert etwas, das niemand erwartet hätte: Carsten Flöter (gespielt von Georg Uecker) und sein Freund Robert Engel (Martin Armknecht) knutschen! Ich breche beim Anblick des ersten schwulen Kusses im deutschen Fernsehen in kindliches Gelächter aus und mein homophober Opa schimpft wie ein Rohrspatz: „Früher wären sie dafür ins KZ gewandert!!!“
Es war die Lindenstraße, die mir beigebracht hat, dass sich ein Teil der Menschen in das gleiche Geschlecht verliebt. Auf die Frage, warum zwei Frauen oder zwei Männer nicht heiraten dürfen, hatte mir meine Großmutter vorher keine Antwort gegeben.
Weite Teile der deutschen Bevölkerung teilten vor 30 Jahren die Empörung meines Opas. Die beiden Darsteller der besagten Kuss-Szene seien nach der Ausstrahlung aufs Übelste angefeindet worden und hätten sogar Morddrohungen erhalten, berichten sie in mehreren Lindenstraßen-Specials und -Dokumentationen.
Volksnahe Serienfiguren
Attacken erlebte auch Irene Fischer, die in der Rolle der Anna Ziegler Mutter Beimer den Hansemann ausgespannt hatte. In der Doku „Bye bye Lindenstraße“ schildert sie, wie sie Ende der 80er auf der Straße als „Ehebrecherin“ und „Schlampe“ beschimpft und sogar angespuckt worden sei. Wegen der Volksnähe der Geschichten in der Lindenstraße erkannten manche Fans in den Anfangsjahren den Unterschied zwischen Schauspiel und Realität nicht mehr.
Allerdings wären manche der Charaktere wohl im realen Leben schwer traumatisiert gewesen. Man denke beispielsweise an Tanja Schildknecht (Sibylle Waury), eine Figur der ersten Stunde. Ihre kleine Schwester Meike stirbt an Leukämie, ihre Mutter Henny begeht Selbstmord und ihr Vater Franz erfriert als verarmter, trinkender Maler ein paar Jahre später im Hinterhof von Haus Nummer drei. Tanja arbeitet als Callgirl, wird die Geliebte eines wesentlich älteren schwerreichen Franzosen und heiratet dann den an den Rollstuhl gefesselten Doktor Dressler, dessen drogensüchtige Patientin Sonja ihre lesbischen Neigungen weckt. Als ihr Ehemann von der Affäre erfährt, tötet er die Nebenbuhlerin mit einer Überdosis Methadon. Tanja verzeiht ihm und er wird später ein väterlicher Freund.
Demos für den Erhalt der Lindenstraße
Dies sind nur ein paar Eckpunkte aus dem Lebenslauf einer Paraderolle in der Lindenstraße, die womöglich den Fans vor den Bildschirmen Lösungsmöglichkeiten bei eigenen Problemen aufgezeigt hat. Bei einer Demo gegen die Absetzung der Sendung am 19. Oktober 2019 in Berlin unterhalte ich mich mit einigen Gleichgesinnten. Viele haben die Mitglieder der fiktiven Hausgemeinschaft als gute, alte Freunde empfunden. Manche haben ähnliche Geschichten durchgemacht und fühlen sich von der Lindenstraße verstanden.
Mit Parolen wie „Ohne Mutter Beimer ist Weihnachten im Eimer“ ziehen wir vom Berliner Hauptbahnhof bis zum Alexanderplatz, die ehemalige Darstellerin Zazie de Paris ist Schirmherrin der von Petra Namyslo initiierten Mission. Vor dem ARD-Hauptstadtstudio hält Petra eine leidenschaftliche Rede. Die Polizisten, die uns umringen, können sich ein Grinsen kaum verkneifen. Es ist nicht die erste Demonstration für die Lindenstraße, am 14. März folgt eine weitere. Programmbeschwerden an die ARD werden mit Einheitsschreiben abgespeist und nach all dem Protest deutet die Tagesschau vom 29. März ein Revival an. Ein Fünkchen Hoffnung am Horizont?
Bis zu einer möglichen Wiederbelebung der Serie werde ich mir jeden Sonntagabend die alten Folgen auf DVD ansehen, angefangen mit der allerersten Episode vom 8. Dezember 1985. Ich schätze mich unendlich glücklich, die Freiheit zu haben, weder seichte Herzschmerz-Serien noch menschenverachtende Reality-TV-Shows oder das nächste große Corona-Special einschalten zu müssen! Für die Schauspieler und die Produktionsmitarbeiter der Lindenstraße wünsche ich mir, dass sie alle in der derzeitigen Fernsehwüste eine neue Oase finden. (as)
Titelbild: Lindenstraße / Facebook