Die Macht des Wortes wirkt. Worte können anderen Menschen große Freude bereiten und sie ebenso tief verletzen. Sie sorgen für Klärung und produzieren Missverständnisse, belustigen und provozieren. Die Werbung setzt Sprache gezielt ein, um Aufmerksamkeit zu erregen – zum Beispiel ein Slogan eines Berliner Erotik-Versands, den ich wie folgt in Erinnerung habe: „Miese Stimmung auf der Party? Puppen kaufen!“
Meine Reaktion auf die Plakate in der Stadt: Obwohl mein Interesse an Sex-Puppen nicht geweckt wird, bekomme ich einen Lach-Flash. Ich merke mir sowohl das Unternehmen als auch die Werbebotschaft. Genauso arbeiten Politiker. Bestimmte Parteien missbrauchen die Macht der Sprache, um die politischen Gegner in Rage zu versetzen. Die wiederum reagieren emotional, tun ihren Unmut in den sozialen Netzwerken kund und schenken der Partei, was sie mit ihrer Taktik bezweckt: kostenlose PR und sei sie noch so negativ.
Da ich die Mechanismen durchschaue, behalte ich meine politischen Ansichten auf Facebook und Co. für mich. Wer Hetzreden öffentlich teilt oder sich hitzig dazu äußert, hilft nur dem Rädelsführer und seinen Weggefährten, viral zu gehen.
Die Macht des Wortes gegen Grabräuber
Anfang 2019 helfe ich lieber meiner Mutter mit der Macht des Wortes. Wir stehen vor dem Grab meines Onkels, das sie mit der Figur einer schlafenden Katze verziert hat. Aber wo ist die? Als ich sie das frage, hat sie das Verschwinden noch gar nicht bemerkt.
Auf dem Dorf-Friedhof gehen öfters Dekorationen von Gräbern verloren. Viele kennen sich untereinander und beklagen beim Plausch am Grab den Diebstahl von Engel-Skulpturen, kleinen Herzen, Totenkerzen und sogar Blumen.
Dass es nun auch die Granit-Katze getroffen hat, bringt das Fass zum Überlaufen. Meine Mutter ist außer sich vor Wut und Trauer und bricht neben dem Grab fast in Tränen aus. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mich das ärgert! In der Zeitung müsste man darüber schreiben!“, echauffiert sie sich.
Müsste? Ich kenne sie schon lange genug, um zu wissen, dass sie das bleiben lässt, die Grabräuber munter weiter zur Tat schreiten werden und sie sich erneut ärgern wird. Also nehme ich die Sache in die Hand und schreibe gleich nach dem Friedhofsbesuch einen Leserbrief für die Tageszeitung. Mit dem Ziel, dass die Katzenfigur bald wieder dort steht, wo sie hingehört. Erst nachdem ich ihn abgeschickt habe, berichte ich meiner Mutter von meiner Tat. „Du hast was?!“, reagiert sie entsetzt und beruhigt sich nach dem Lesen meiner Worte an die Redaktion.
Ein erfolgreicher Leserbrief
Denn auch Grabräuber sind nur Menschen und mit meinem Brief appelliere ich direkt an deren Gefühle. Zum Beispiel erzähle ich den Lesern der Zeitung von der schwarzen Katze Luna, die mein Onkel sehr geliebt hatte und genau sechs Monate nach seinem Tod auch nicht mehr nach Hause kam. Außerdem erkläre ich die emotionale Lage meiner Mutter
„Der unerwartete Verlust ihres Bruders hat eine klaffende Lücke hinterlassen. Die Trauer ist zwar nicht mehr ganz so frisch wie unmittelbar nach dem Unfalltod, aber ausradieren lassen wird sie sich wohl nie! Wenn Diebe sein Grab plündern, mag es sich für sie anfühlen, als hätte ihr jemand den Bruder zum zweiten Mal entrissen.“
In der ländlichen Gegend, aus der ich stamme, abonnieren die meisten Haushalte noch die Tageszeitung. Die Leute beobachten sich untereinander und meinen viel über die anderen zu wissen. Sie klatschen und tratschen hinter dem Rücken, aber passen auch bis zu einem gewissen Grad aufeinander auf.
Nach der Veröffentlichung meines Leserbriefs wird meine Mutter von vielen Bekannten darauf angesprochen: beim Einkaufen, beim Arzt oder auch am Ort des Geschehens, dem Friedhof. Dort vollzieht sich ein paar Tage später ein Wunder. Die Katze und jede Menge anderer Grabschmuck kehren zurück. Hat das schlechte Gewissen den Dieb etwa übermannt? Oder hängt die Person, wie meine Mutter, auch innig an ihren Geschwistern? Darüber lässt sich nur spekulieren, doch eines ist sicher: Mit der Macht des Wortes habe ich mein Ziel erreicht! (as)