Stehen unbegründete Ängste, Gefühle von Heimatlosigkeit, diffuse Traurigkeit oder Beziehungsunfähigkeit im Zusammenhang mit Kriegserlebnissen der Eltern und Großeltern? Das Autoren-Ehepaar Dr. Gabriele Frick-Baer (Jahrgang 1952) und Dr. Udo Baer (geboren 1949) schildert in seinem Ratgeber zum Thema Kriegserbe in der Seele, auf welche Weise Kriegstraumata von einer Generation zur nächsten weitergereicht werden.
Ein Vortragsabend der beiden erfahrenen Therapeuten in der Berliner Urania offenbart am 18. Februar 2020, wie relevant das Thema 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch ist. Der Andrang ist riesig und zahlreiche Interessenten erhalten an der Abendkasse keine Karten mehr. Die meisten, die es in den Kleist-Saal geschafft haben, sind 60 und 70 plus, gehören also wie die Vortragenden der ersten Nachkriegsgeneration an. In vielen Gesichtern lese ich Betroffenheit, während ich im Laufe der Veranstaltung schwere Ketten in meinem Brustbereich wahrnehme.
Kriegserbe in der Seele einer Enkelin
Was hat mich zu solch einem Vortrag geführt? Sicherlich habe auch ich ein Kriegserbe in der Seele haften. Möglicherweise stammt es von meinen Großeltern väterlicherseits, über die ich mir seit einiger Zeit intensiv Gedanken mache. Während mein Großvater an der Front Taten begangen hat, über die sich nur spekulieren lässt, ist meine Großmutter 1945 mit ihrem Baby aus ihrer Heimat in Pommern über die Ostsee nach Dänemark geflohen. Das Mädchen, das meine Tante war, starb mit nicht einmal einem Jahr an einer Erkältung.
Nach dem Krieg trafen Oma und Opa sich wieder und schufen sich vor den Toren von Kassel eine neue Existenz. Über den Verlust seiner ersten Tochter erzählte mir mein Großvater kurz vor seinem Tod: „Das hat mich nicht getroffen, ich habe sie nicht gekannt.“
Zwischen 1947 und ’58 zeugte er acht weitere Kinder, die sich ihre Spielzeuge aus dem Quelle-Katalog ausschnitten, nur wenig Essen bekamen und schon sehr früh helfen mussten, sein Business aufzubauen. Wer sich dagegen sträubte, bezog Prügel und meine Oma bläute laut Aussage meiner Mutter ihren zwei lebenden Töchtern ein: „Heiratet nie!“ Gesagt, getan …
Weitergabe von Traumata an Kinder und Enkel
Dieser Zweig meiner Familie ist ein Beispiel von 14 Millionen Menschen aus deutschen Ostgebieten, die 1945 aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Zwei Millionen verloren dabei ihr Leben und zwei Drittel aller, die den Zweiten Weltkrieg erlebten, hätten traumatische Erfahrungen gemacht, erklärt Udo Baer auf der Bühne.
Die Folge: Kinder und Kindeskinder leiden unter Gefühlen, die sie sich selbst nicht erklären können. Dabei kann es sich um Schuldgefühle, Trauer, Ängste, Einsamkeit oder ein Abgeschnittensein von den eigenen Wurzeln handeln. Eine Gnade der späten Geburt gebe es nicht, sagt das Therapeuten-Paar, das Betroffene unterstützen möchte, die Weitergabe von Kriegserbe in der Seele zu beenden.
Die Vererbung von Traumata beruhe auf Gefühlen, die Kinder von Kriegsopfern und -tätern von ihren Eltern mitbekommen hätten. Ein Kind spüre beispielsweise die Angst der Mutter. Weil es seine Eltern bedingungslos liebt, tue es alles, um sie zu retten.
„Hier wirken die Gefühle von Traumatisierten wie ein schwarzes Loch, das Energie anzieht“, erläutern die Vortragenden. Gabriele Frick-Baer belegt dies zwischendurch immer wieder mit Passagen aus ihrem Buch.
Hinweise auf Kriegserbe in der Seele würdigen
Das „schwarze Loch“ wiederum sei so mächtig, dass selbst in Folge-Generationen etwas Belastendes in der Luft liegen könne. Diese Atmosphäre sei ernst zu nehmen und als Hinweis auf ein Kriegstrauma zu würdigen.
Zwei oder drei Wochen vor dem Vortrag streame ich eine Fernsehserie von 1978. Die Familiensaga Jauche und Levkojen spielt auf einem Gut in Hinterpommern – eben jener Region, wo meine Großeltern aufwuchsen. Als in der letzten Folge die Flucht gen Westen dargestellt wird, breche ich so heftig in Tränen aus, als ginge es um meine eigene Familie. Minutenlang schluchze ich aus der Tiefe meines Bauches. Im Nachhinein komme ich mir vor wie eine Stellvertreterin meiner längst verstorbenen Oma.
Methoden zur Trauma-Bewältigung
Welche Methoden kann man anwenden, um sich von solch einem Kriegserbe in der Seele zu befreien? Der erste Schritt zur Hilfe sei, mit Angehörigen darüber zu sprechen. Viel zu oft seien Traumata verschwiegen worden, da sie Menschen in ihren Grundfesten erschüttern und verstummen lassen. Wenn dies nicht möglich sei und Fragen keine Antworten liefern, solle man auf Objekte achten – etwa ein Bild aus der verlorenen Heimat.
Auf mich bezogen: Meine Großeltern kann ich heute nicht mehr fragen, die Kommunikation unter ihren Kindern und Enkeln ist sehr ausbaufähig und sämtliche Objekte sind vermutlich beim Verkauf des großväterlichen Anwesens verschütt gegangen. Ich habe aber seit Jahresbeginn einen starken Drang, im Sommer eine Radtour durch Pommern zu machen und eine Nacht in Oma und Opas Heimatstadt zu verbringen.
„Und-Listen“ anfertigen
Das Ziel einer solchen Reise ist in meinem Fall, mich von dem Kriegserbe in der Seele zu lösen – mit dem Eingeständnis: Ich bin ein eigener Mensch und ich bin von anderen geprägt worden. Nach Angaben der Baers sei es hilfreich, sogenannte „Und-Listen“ anzufertigen. Die Sätze darauf können lauten:
Mich beeinflussen die Traumata meiner Großeltern und ich lebe mein eigenes Leben.
Ich liebe meinen Vater und ich werfe ihm vor, dass er seine Kindheitserfahrungen an mich weitergegeben hat.
Ich habe Mitgefühl und ich entscheide trotzdem, mich abzuwenden, um mich zu retten.
Abwenden sowohl mit Akzeptanz der Familiengeschichte als auch mit Distanz zu den Eltern und Großeltern, die Kindern anfangs unweigerlich als Vorbilder dienen! Zum Schließen der Lücke sei es ratsam, neue Vorbilder den alten entgegenzusetzen. Das können Personen des öffentlichen Lebens oder aus dem persönlichen Bekanntenkreis sein.
Meinhaftigkeit der Gefühle suchen
„Wir haben die Wahl“, macht Udo Baer deutlich und ergänzt: „Es ist wichtig, nach Meinhaftigkeit zu suchen. Ist das wirklich meine Angst oder habe ich die von anderen übernommen? Ist das meine Unfähigkeit, über Gefühle zu sprechen oder gehört sie meinem Vater? Wer meinhaftig ist, geht besser in Beziehung.“
Wer stattdessen seine eigenen Emotionen nicht genau kenne, laufe Gefahr, den Krieg in den Familien fortzuführen – unter Ehepartnern, Eltern und Kindern oder Geschwistern. Menschen, die von Hause aus nie gelernt haben, offen ihre Gefühle zu kommunizieren, weil ihre Eltern aus Überlebensnot versteinert waren, können es nicht mit ihrem Nachwuchs tun. 1945 gab es keine Selbsthilfegruppen und psychologischen Ratgeber, weder Vorträge noch Seminare. Die Kriegsgeneration war allein auf sich und ihre Problematik gestellt.
Um im Jahr 2020 noch mehr Menschen Impulse zur Überwindung von Kriegserbe in der Seele zu vermitteln, planen die Baers, ihren Vortrag im Herbst in der Urania in Berlin zu wiederholen. (as)
Liebe Annika,
Dein Bericht über die Folgen traumatischer Erlebnisse, insbesondere familiärer Kriegsgeschehnisse und deren Auswirkungen auf die Nachfahren eines geschlossenen Familiensystems, las ich mit großem Interesse und kann nur befürworten, sich diesen sensiblen Themas zu öffnen, weil es bei den Betroffenden die Lebensqualität erheblich steigert.
Aus eigenen Erfahrungen als systemische Aufstellerin kann dieses „Erbe“ wie Du schreibst, ungehindert aufgelöst werden (auch wenn die Vorfahren nicht mehr irdisch verweilen), indem es schlicht gesagt: in die „Ordnung“ gebracht wird.
Das „Erbe“ zeigt sich mit vielen Gesichtern, doch die eindrücklichsten sind die somatischen Symptome sowie Depressionen oder auch Lebensumstände, die erdrückend einher gehen.
Doch kann im Eigentlichem nicht von einem „Erbe“ gesprochen werden, weil die Vorfahren es in diesem Sinne an die nachfolgenden Generationen gar nicht bewusst weitergegeben haben.
G. C. Jung spricht vom Genationsbewusstsein bzw. von dem gentisches Bewusstsein, ich auch.
Ich selbst war Betroffene und das nicht nur des letzten Krieges wegen.
Ich hoffe, dass viele Menschen Deinen Bericht lesen.
Ich bin auf Facebook auf Dich aufmerksam geworden und wer weiß, vielleicht laufen wir uns einmal über den Weg.
Herzlichst, Doreen Malinka
Elysion
Hallo Doreen,
ich danke dir für deinen aufschlussreichen Kommentar. Bei einer Begegnung hätte wir uns bestimmt so einiges zu erzählen!
Herzliche Grüße,
Annika