Wie wir einmal (fast) berühmt wurden – unter diesem Titel dokumentiert die Filmemacherin Christiane Nalezinski das Künstlerleben von sechs schillernden Persönlichkeiten in Berlin-Kreuzberg. Der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben, künstlerischem Ausdruck und Lust zur Selbstdarstellung eint diese vogelfreien Charaktere genauso sehr wie ihr Kampf ums Überleben. Alle sechs sind in den 90er Jahren Darstellerinnen und Darsteller in Christianes Kreuzberg-Serie „Linsenstraße“, die der Lindenstraße weder nacheifert noch Hans W. Geißendörfers Werk parodiert.
Eigentlich wollen die Regisseurin und ihr Ensemble im Oktober 1994 nur einen „kleinen, schmutzigen Film“ drehen: „Ein Tag im unordentlichen Leben der Schauspielerin Marlene“. Der Name der von Christiane verkörperten Protagonistin ist eine Anspielung auf Leinwand-Legende Marlene Dietrich. Die Kreuzberger Marlene möchte sich jedoch von einem Dach stürzen und ihr Weg zu einem Casting bei Starregisseur Joseph von Sternberg endet beim Sozialamt.
Wie wir fast einmal berühmt wurden in der „Linsenstraße“
Aus dem Kurzfilm wird die „Linsenstraße“ – eine Straße voller Künstler, Schmarotzer, Eigenbrötler, Underdogs und verkannter Genies. Im Mittelpunkt steht ein fiktives Theater-Ensemble, in dem die Biografien der Rollen und der realen Personen miteinander verschmelzen. Wo das eigene Leben endet und die Fiktion beginnt, bleibt im Dunkeln. Die Geschichten schreibt das Leben auf der (Linsen-)Straße. Christiane und ihr Team heben sie lediglich vom Asphalt auf und lassen sich mit geliehener Kamera zwischen dem real existierenden Schauplatztheater und dem Trödel an der Ecke inspirieren.
Im November 1994 feiert die Berliner Soap im Kreuzberger Kino Eiszeit Premiere. In einem Zeitraum von fast drei Jahren entstehen weitere Folgen, bis im Frühsommer 1997 das Schauplatztheater und kurz darauf der Trödel schließt. Ab 2004 sucht Christiane ihre ehemaligen Darsteller wieder auf und interviewt sie über ihr Leben und ihre Träume seit dem Ende des Serienprojekts. Keiner der sechs hat den „ganz großen Durchbruch“ geschafft, alle berichten von einem Spagat zwischen Lust und Frust des Künstlerdaseins.
Zwischen Kunst und zerplatzten Träumen
Gabi, die inzwischen Mutter ist, bezeichnet ihre Schauspielkarriere unverblümt als „gescheitert“. Der charismatische Hans Jörg hat es mit seiner Leidenschaft für die darstellenden Künste ebenso wenig zu Ruhm und Reichtum gebracht. Mittlerweile lebt er in München und absolviert ein Fernstudium der Psychologie.
Fast berühmt geworden ist lediglich die Neuköllner Kultfigur Juwelia Soraya alias Stefan Stricker. Die liebenswerte Transe, deren Lebensgefährte Lothar in der „Linsenstraße“ für Licht und Ton verantwortlich war, ist ein trashiges Showgirl und eine begnadete Malerin. Der Regisseur Rosa von Praunheim setzte sie 2017 in seinem Film „Überleben in Neukölln“ in Szene. Im gleichen Jahr hatte Juwelia in einer Galerie in New York eine Ausstellung, bei der sämtliche Bilder verkauft wurden. Ihr eigenes Galerie Studio St. St. in Neukölln ist einer der wohl letzten Wohlfühlorte in Berlin, der bisher erfolgreich der zunehmenden Gentrifizierung im Kiez getrotzt hat.
In „Wie wir einmal (fast berühmt) wurden“ erscheint Juwelia als wandelndes Gesamtkunstwerk und Farbenschock zwischen Kunstblumen, blumigen Tagesdecken und bunten Lampen aus den 50er Jahren. Sie ist die Personifizierung des Großstadtmärchens, das in Christianes Film-Hommage zwangsläufig in der nackten Realität der Existenzangst endet.
Das Mörike-Lied zum Film
Die Tragik, die in der Langzeit-Doku immer mitschwingt, kommt auch in dem Lied zum Film zum Ausdruck:
Die Welt wär ein Sumpf, stinkfaul und matt
Ohne die Enthusiasten,
die lassen den Geist nicht rasten
Die besten Narrn, die Gott lieb hat,
mit ihrem Treiben und Hasten
Ihr eigen Ich vergessen sie,
Himmel und Erde fressen sie
und fressen sich nie satt!
Diese Zeilen stammen von Eduard Mörike. Die Filmemacherin erklärt: „Als ich das Lied ‘Die Enthusiasten’ von Peter Schindler zum ersten Mal hörte, wusste ich sofort: Das ist das Lied zum Film! Da wusste ich noch gar nicht, dass der Text von Mörike ist.“
Wie im griechischen Drama erscheint zwischen den Szenen ein Chor, der das Lied als Kommentar zur jeweiligen Situation interpretiert. Die Gruppe von Sängern erfüllt aber noch eine weitere Funktion: „Der Chor als Gegenwelt zum Einzelgänger, Einzelkämpfer“, erklärt Christiane.
„Wie wir einmal (fast) berühmt wurden“ ist im Sommer 2020 bereits mehrmals im Neuköllner Kino Moviemento über die Leinwand geflimmert – zuletzt am 4. September im Beisein der Regisseurin. Weitere Termine werden in Kürze bekannt gegeben. (as)